Boris Bagger

Die Mandoline ist der Renner! * Björn Boris Bagger: Ein Beobach­ter des Zeitgeistes

ZK Herr Professor Bagger, was ist Ihr Erfolgs­re­zept? Was führt zu den mehr als eine Million Klicks auf Youtube, Ihr Weg zu Spotify, und warum kommen immer mindes­tens ein tausend Zuhörer zu den Konzerten Ihres Mandolinenorchesters?

Die Zupfer­sze­ne hat sich ein wenig gespalten. Bei dem Bruchsal Festival war im Gespräch, dass man nur noch Origi­nal­li­te­ra­tur aufführen dürfte.

ZK Dann wäre das halbe Festival gestorben.

Darum möchte ich davon unbedingt Abstand nehmen und mich aktueller Musik zuwenden, die Freude macht. Was ist Zupfmusik überhaupt? Was gibt es an wirklich origi­na­ler Literatur? Ambrosius, Wölki…

Mando­li­nen­or­ches­ter Ettlingen

Bei den Zupfern gibt es gute und schlechte Musik. Beispiel Ravels „Bolero“. Diesen hat Ravel ursprüng­lich für Klavier zu vier Händen geschrie­ben, danach instru­men­tiert. Dies hat mich dazu bewegt eine Variante für Zupfor­ches­ter zu machen. Wenn man diese mit der Klavier­fas­sung vergleicht so ist die Zupfer-Variante um vieles farben­rei­cher.
Zupfmusik war das Orchester der armen Leute, Mandoline war ein billiges Instru­ment, sozusagen Geigen­er­satz, und so spielte man Bearbei­tun­gen rauf und runter: zum Beispiel Verdi „Traviata“, um Menschen, die keine musika­li­sche Bildung haben, diese Musik nahe zu bringen. Origi­nal­li­te­ra­tur für Zupfmusik gibt es ganz wenig.

ZK Darum gibt es regel­mä­ßig Auftrags­kom­po­si­tio­nen, in denen in der Regel das Thema in gleicher Weise 12mal nachein­an­der kommt. Ich habe auch schon 24mal gezählt. Dies schien mir nicht besonders publi­kums­wirk­sam zu sein (wobei wir soeben die Diskus­si­on aus den 50ern wieder aufnehmen).

Darum gibt es für mich einfach gute und schlechte Musik – vom 11. Bis zum 21. Jahrhun­dert — und keinen Unter­schied zwischen klassi­scher und Popmusik. Im 19. Jahrhun­dert hat Schubert Ländler geschrie­ben. Das war eine Tanzform in Wien um 1810. Gewis­ser­ma­ßen alte Popmusik bei einem so genannten Klassiker.  1814 Wiener Kongress mit Johann Strauß: Der Wiener Kongress tanzt. Daraufhin hat Schubert auch Walzer geschrie­ben. In der Barock­zeit gab es die Tanzfor­men Allemande, Sarabande …Menuett. Chopin mit Mazurken und Polonai­sen. Im 20. Jahrhun­dert mit dem Jazz, der sogenann­ten Popmusik und aktuellen Tanzfor­men wie Cha-cha-cha oder RocknRoll. So zeigt sich das 20.Jahrhundet hochinteressant.

Stellen Sie sich vor: eine Hochzeits­ge­sell­schaft in Stuttgart um 1850. Wenn da Paul McCartney aufge­tre­ten wäre und hätte Yesterday gesungen… Ich bin sicher, es wäre genauso erfolg­reich gewesen wie heute. Oder Elvis Presley 1850. Der wird von vielen Klassik­fans unter­schätzt.
Bach war nach seinem Tod vergessen. Berühmt hat ihn Charles Gounod durch das Ave Maria gemacht: Er hat das Präludium Nr.1 von Bach genommen und eine Cantilene darüber geschrieben.

ZK Ihre These ist also: Wir haben schon immer E- und U‑Musik gehabt. Für Sie gibt es keine Trennung der beiden Genres, und dies führt zu Ihrer Begrün­dung warum Sie das spielen, was Sie spielen: nämlich gute U‑Musik.

Beispiel Eminem-Rap. Ich habe mir das angehört, habe gedacht: „Oho – hochin­ter­es­sant! Ganz sparsam geht er mit dem Sprech­ge­sang im Rhythmus um. Er hat alle Wettbe­wer­be gewonnen. Was für Wettbe­wer­be? Nicht bei „Jugend Musiziert“. Vielmehr gibt es in den USA Hinter­hof­wett­be­wer­be, wo das Publikum entschei­det, wer gewinnt. Dadurch gibt es neue Richtun­gen, die nicht vorpro­gram­miert sind. Darum gibt es keine Trennung zwischen Gustav Mahler und Eminem, Pink Floyd, Beatles – es gibt immer gute und schlechte Musik in jedem Genre.

ZK Was mir auffällt: Je mehr Sie veröf­fent­li­chen, desto zurück­hal­ten­der oder „dünner“ wird die Musik. Eine Fuge kommt darin überhaupt nicht vor. Die wäre doch auch nicht richtig schlecht? Z.B. Toccata und Fuge von d‑moll von Bach.

Es hat mir noch keiner eine Bearbei­tung vorgelegt, die gut klingt. Ich nehme nur Bearbei­tun­gen an, welche im Musik­stück – ich sage nicht Werk – einen neuen oder inter­es­san­ten Aspekt hinein­bringt. Wenn wir z.B. „Dance Monkey“ (Tones & I) anschauen: Das habe ich im Radio gehört und gedacht, dass das gut für Mando­li­nen­or­ches­ter klingt. (Verschie­de­nen Anschlags­ar­ten, geeignete Rhythmen oder Canti­le­nen eignen sich dafür, wenn sie mit Tremolo verbunden werden können.)
Bei „Dance­M­on­key“ fehlt immer die erste Achtel: Sehr inspirierend!

TONES AND I — DANCE MONKEY (OFFICIAL VIDEO)

DANCE MONKEY Tones And I Mandolin Orchestra Ettlingen Boris Anna Bernard Bagger cover

Aus der so genannten Klassik lasse ich den Blumen­wal­zer von Tschai­kow­sky bearbei­ten. Dieses Stück verliert als Mando­li­nen­fas­sung nichts gegenüber dem Original.

ZK Die Würze bringen Sie herein durch einen Gitar­ris­ten, Sänge­rin­nen – also durch Solisten. Das Mando­li­nen­or­ches­ter ist mehr eine Beigabe. Gibt es da einen Zusam­men­hang, dass Sie Orches­ter­fo­tos mit Masken produ­ziert haben, wo der einzelne Orches­ter­spie­ler anonym bleibt?

Ein Orchester ändert sich, es ziehen welche weg oder kommen neue hinzu. Fotos sind teuer. Dieses Masken­fo­to können wir für die nächsten dreißig Jahre benutzen. Und es hat einen riesigen Wieder­erken­nungs­wert. Es bewirkt auch Interesse in Verbin­dung mit der Mandoline.


  Laut Bundes­ver­band Musik­in­dus­trie (BVMI) liegt der Markt­an­teil von Musik-Streaming-Diensten allein in Deutsch­land mittler­wei­le bei 46,4 Prozent. Das ergab eine Studie aus 2018, die im Rahmen des “Music Consumer Insight Reports” des BVMI-Dachver­bands IFPI (Inter­na­tio­nal Federa­ti­on of the Phono­gra­phic Industry) jedes Jahr durch­ge­führt wird. Insgesamt wurden Menschen zwischen 16 und 64 Jahren aus 18 Ländern inter­viewt – dabei heraus­ge­kom­men ist, dass die Befragten in einer Woche durch­schnitt­lich 17,8 Stunden Musik hören. Die für diesen Artikel wichtigs­te Zahl der Studie dabei ist: 86 Prozent der befragten Menschen nutzen einen Audio- oder Video-Streaming-Dienst, um ihre Lieblings­mu­sik zu hören. Da ist es kaum verwun­der­lich, warum CDs ausster­ben.
Siehe https://www.stern.de/kultur/musik/musik-streaming-dienste-im-vergleich-8965820.html 

Boris Bagger bei seinem Noten­stand in Bruchsal

ZK Könnte es sein, dass Sie immer mehr wegkommen von Youtube-Filmen hin zu Spotify, also zu reinen Tonstrea­ming Diensten, da man immer häufiger Videos sieht, bei denen das gesamte Orchester mit Masken und als Foto „auftritt“?

Im Jahr 2006 waren wir die ersten, die auf Youtube waren. Mir war klar: Das wird eine Plattform, die Furore machen wird. Es ist für jeden Künstler die Chance, sich zu präsen­tie­ren. Youtube ist die größte Musik­da­ten­bank der Welt.

ZK Ja, nur warum soll ich mir ein Video anschauen, was keines ist?

Wir produ­zie­ren durchaus Videos, auf denen man etwas sieht. Dafür versuchen wir beim Schneiden darauf zu achten, dass die Spieler nicht negativ rauskom­men.
Wenn wir aber Videos produ­zie­ren, auf denen allen­falls die Personen mit Masken zu sehen sind und sonst nichts, dann spielt das keine Rolle. Bei einem erfolg­rei­chen Video kann man nicht sagen, dass der Film das alleinige Entschei­dungs­merk­mal ist.

ZK Das finde ich eine hoch inter­es­san­te These! Sie haben also Videos, auf denen man nichts sieht, aber die genauso erfolg­reich sind hinsicht­lich der Zahl der Klicks wie Videos, die Filmma­te­ri­al darbieten?

Ja, da viele Leute sich das auf dem Handy anschal­ten und einfach anhören und schauen sie gar nicht hin.
Die CD ist tot. Unsere Verkaufs­zah­len sind in den letzten fünf Jahren um 99,9% zurück­ge­gan­gen. Neuere Platt­for­men wie Spotify, Apple Music, Amazon, Deezer usw. werden keines­falls nur von Jugend­li­chen genutzt. Beispiel Charlie Parker: Ich habe geschätzt, dass es monatlich 10.000 User im Monat bei Spotify gibt. Bei meinen Studenten kennt ihn keiner. Aber er hat fast eine Million User! Obwohl ihn die jüngere Genera­ti­on nicht kennt. Daraus kann man ableiten, dass Ältere hier zugange sind.

Auch Studenten, die viel unterwegs sind, wollen sich keine CD mitnehmen. Bei Laptops oder Tablets finden Sie kein CD-Laufwerk.

ZK Was ist das für ein Phänomen, wenn mir junge Künstler CDs schicken oder sich dringend wünschen: Ich möchte unbedingt eine eigene CD haben?

[Anna Bagger (18 Jahre) schaltet sich ein:] Ich bin der Meinung, dass es sich um eine Protest­be­we­gung gegen Digita­li­sie­rung und gegen das Schnelle in der Welt handelt. Ich finde, dass die CD eine Faszi­na­ti­on ausübt, denn es gibt ja viele Künstler, die immer noch CDs anbieten, und diese werden tatsäch­lich auch bestellt. Das will man nicht nur zum Anhören, sondern man stellt sie sich ins Regal als etwas Handfes­tes, was man nicht einfach so löschen kann. Es ist nicht so vergäng­lich.
[ Björn Boris Bagger setzt fort:] Die Mieten sind hoch. Eine CD-Sammlung kann man sich gar nicht leisten – schon rein räumlich. Da ist einfach kein Platz für CDs.
Keine Schränke, keine Regale – nichts mehr. Nur noch der Flügel im Wohnzim­mer. Die CDs sollten alle weg. 8000 CDs — Man braucht sie nicht mehr. Alles geht mit Youtube und Spotify.

Zupfer­ku­rier: Warum haben Sie aber noch das „ganze Zeug“ hier herumstehen?

Man denkt, man könnte sie doch noch einmal… Mike Oldfield zum Beispiel.
Die Mandoline hat nach meiner Beobach­tung kaum Achtung in der Öffent­lich­keit, und Sie schaffen es, 2000 Leute in einer Halle zu einem Vereins­kon­zert zu versam­meln. Wie kommt das?

Als ich das Mando­li­nen­or­ches­ter übernahm, wollte ich einen Weg gehen, der für mich nicht langwei­lig ist. Ich habe den Noten­schrank des Orches­ters gesichtet, was so gespielt worden war – dieses Reper­toire hat mich total gelang­weilt. Daraufhin habe ich beim ersten Konzert einen Topso­lis­ten einge­la­den, Detlef Tewes, dazu Sonder­in­stru­men­te, wie Cello, um dem Publikum einen inter­es­san­ten Sound zu bieten.
Auch Sinfo­nie­kon­zer­te sind niemals ohne Solisten. Sie sagten gerade, dass mein Orchester in eine beglei­ten­de Funktion hinein­rutscht — das stimmt das so nicht. Wenn wir „Zigeu­ner­wei­sen“ spielen, dann spielen wir 1:1 die Variante für Streich­or­ches­ter, wo das Orchester ausdrück­lich begleitet. Das Orchester ist (in der Regel) immer in beglei­ten­der Funktion. Das Orchester bringt aber eine Farbe hinein – es ist ein gegen­sei­ti­ges Befruch­ten zwischen Solisten und Orchester.
Wir haben erstklas­si­ge Solisten dabei: ARD-Preis­trä­ger, Tschai­kow­sky –Preis­trä­ger (Moskau). Adrian Brendle, inter­na­tio­na­ler Preis­trä­ger spielte bei der „Rhapsody in Blue“ von Gershwin. Sänger wie Marc Marshall und Jay Alexander, oder Larissa Wäspy, die jetzt an der Hamburger Staats­oper singt, Gewin­ne­rin von Voicekids — diese Solisten sind alle begeis­tert von dem Klang des Mando­li­nen­or­ches­ters und würden jederzeit wieder­kom­men und mit uns spielen!
Abgesehen davon. Das Publikum inter­es­siert nicht dafür, ob das Orchester besonders schwie­ri­ge oder schnelle Passagen spielt. Bei einem Konzert kommt es doch darauf an, Leute emotional zu bewegen. Wir scheinen dies zu schaffen, denn jedes Jahr sind unsere Konzerte ausver­kauft.
So ein Orchester muss auch seine Finanzen im Griff haben. Ich bekomme zu viele Anrufe: „Wir sind finan­zi­ell am Ende.“ Wie soll man da gute Auftritte organisieren?

ZK also Ihr quali­ta­ti­ver und quanti­ta­ti­ver Erfolg setzt sich zusammen aus einer Mischung von U- und E‑Musik (was man ja gar nicht so sagen darf), Einbin­dung von Solisten und dem beson­de­ren Klang des Mandolinenorchesters.

Ja, und wir machen auch noch Jugend­ar­beit: Momentan haben wir 50 Anfänger.

ZK Es gibt doch kaum Dozenten

Einige Leute vom Orchester unter­rich­ten, und dieje­ni­gen, die weiter­kom­men wollen, gehen zu Denise Wambsganß.

Ich bin begeis­tert. Danke!

Alle Fotos in diesem Beitrag: Copyright Dr. Thilo Fitzner

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