Gesundes Musizie­ren: „gesundes orchester“

Typische Steel­string-Haltung im Sitzen: Blues­gi­tar­rist­S­e­bas­ti­an Strodt­beck von Clapton­Ex­pe­ri­ence (Foto: Ernst Luk)

Warum ist gesundes Musizie­ren so wichtig?

Musizie­ren verbindet Körper, Geist und Seele. Dabei müssen viele Abläufe koordi­niert werden. Damit dies erfolg­reich gelingt, ist Voraus­set­zung, dass sich der Musiker/die Musikerin wohlfühlt. Schon einfache Übungen, wie das kurze Aufwärmen der beanspruch­ten Muskeln vor dem Musizie­ren tragen viel dazu bei, während des Musizie­rens die Gesund­heit und das Wohlbe­fin­den positiv zu beein­flus­sen. Diese Maßnahmen helfen zudem, Überlas­tun­gen und Haltungs­schä­den vorzu­beu­gen. Weitere Schwer­punk­te beim gesunden Musizie­ren können Elemente wie Rücken­schu­le, Haltung, Balance und Ergonomie aber auch Kommu­ni­ka­ti­on, Motiva­ti­on und die Entwick­lung von Auftritts­mut sein. Regel­mä­ßig prakti­ziert, wird so mit relativ wenig Aufwand aktives Musizie­ren zum idealen Ausgleich im Berufs- und Alltagsleben!

Das Projekt „gesundes orchester“

Auch uns „Zupfern“ wird beim Musizie­ren viel abver­langt (beispiel­haft sei die einsei­ti­ge physische Belastung genannt). Für diese Anfor­de­run­gen sollten wir gewappnet sein. Zudem kann das musika­li­sche Gesamt­po­ten­zi­al eines Orches­ters nur dann optimal ausge­schöpft werden, wenn jedes Mitglied sowohl physisch als auch psychisch in die Lage versetzt wird, sein Bestes zu geben. Hierfür benötigen die Orches­ter­mu­si­ker die richtigen Werkzeuge. Eine der Grund­la­gen ist die Sensi­bi­li­sie­rung für die Thematik der Musiker­ge­sund­heit. Exempla­risch für den BDZ-BW wird deshalb das WZO Württem­ber­gi­sches Zupfor­ches­ter unter seinem neuen Dirigen­ten Frank Scheuerle sich auf den Weg machen und am Projekt „gesundes orchester“ der Stiftung Inter­na­tio­na­le Musik­schul­aka­de­mie Schloss Kapfen­burg betei­li­gen. Es handelt sich hier um eine zerti­fi­zier­te Weiter­bil­dung im Bereich „Präven­ti­on für Orches­ter­mu­si­ker“. Wie sieht das Konzept aus?

Im ersten Schritt…

werden zwei Orches­ter­mit­glie­der (Thomas Gaugele und Rainer Ungermann) im Laufe eines Jahres zu Mentoren ausge­bil­det. In fünf Modulen (Dauer jeweils zwischen drei und fünf Tagen) werden, unter der Leitung von Experten aus den Bereichen Musik­phy­sio­lo­gie und Musiker­me­di­zin, Themen wie Grund­wis­sen Anatomie und Physio­lo­gie, Grund­la­gen der Präven­ti­on und Gesund­heits­för­de­rung, Bewegungs­zu­sam­men­hän­ge am Instru­ment, Verstehen von Belas­tun­gen und Ressour­cen im Orchester, Erkennen und Optimie­ren von Haltungs- und Bewegungs­ge­wohn­hei­ten sowie Maßnahmen zur Spannungs­re­gu­lie­rung und Konzen­tra­ti­ons­stei­ge­rung bearbei­tet. Das Modul V ist dabei komplett dem Imple­men­tie­rungs­pro­zess der theore­ti­schen Inhalte in die Orches­ter­pra­xis gewidmet.

Im zweiten Schritt…

wird dann das gelernte Wissen in die konkrete Orches­ter­ar­beit integriert sowie den (Entschei­dungs-) Trägern des Orches­ters und der Öffent­lich­keit vorge­stellt. Nach erfolg­rei­chem Abschluss der Imple­men­tie­rungs­pha­se erhält das Orchester das Zerti­fi­kat „gesundes orchester“. Dieses wird durch die Stiftung Schloss Kapfen­burg und die Techniker Kranken­kas­se verliehen. In zweijäh­ri­gem Rhythmus sind dann Re-Zerti­fi­zie­run­gen vorgesehen.

Das Ziel:

Durch ideale Voraus­set­zun­gen beim Proben soll die Leistung der Orches­ter­mit­glie­der und somit des gesamten Teams gestei­gert werden. Die Ausge­gli­chen­heit und Gesund­heit im Orchester wächst – und mit ihr die musika­li­sche Qualität. Das hoffen wir und freuen uns deshalb schon sehr auf dieses „Experi­ment“! Wir wollen Sie an diesem Prozess teilhaben lassen und werden deshalb in den nächsten Ausgaben des Zupfer- Kurier laufend über die Entwick­lung des Projekts berichten. Die erste Arbeits­pha­se mit den Modulen 1 und 2 findet vom 03.–05.07.2020 auf Schloss Kapfen­burg statt.

Tipps „Aus der Praxis – für die Praxis!“

Und jetzt werden wir gleich ganz konkret: Nachfol­gend der Gastbei­trag von Susan Groffmann, die als engagier­te Gitar­ren­leh­re­rin, Gitar­ris­tin, Musik­phy­sio­lo­gin und Coach tätig ist (und einigen sicher­lich noch aus ihrer langjäh­ri­gen Tätigkeit als Organi­sa­ti­ons­be­auf­trag­te des JGObw Jugend- Gitar­ren­or­ches­ter Baden-Württem­berg bekannt ist). Thema ist das gesunde Musizie­ren speziell auf der Gitarre, wobei die Inhalte sicher­lich in den wesent­li­chen Punkten auch auf die anderen Zupf-Instru­men­te wie Mandoline/ Mandola übertrag­bar sind. Viel Spaß bei der Lektüre und noch mehr Erfolg bei der anschlie­ßen­den Umsetzung der Übungen! Thomas Gaugele Klassi­sche Haltung: „Jugend musiziert“-

Teilneh­me­rin Allegra Sauter (Foto: privat)

Gesundes Musizie­ren: „gesundes orchester“

Tipps „Aus der Praxis – für die Praxis!“

Musizie­ren ist eine ganz wunder­ba­re Sache! Aller­dings wird das oft roman­tisch verklärt. Dabei ist Musizie­ren laut Neuro­lo­gen eine der anspruchs­volls­ten Tätig­kei­ten überhaupt. Bei keiner anderen Tätigkeit ist der Mensch so umfassend mit seinen diversen Fähig­kei­ten gefordert. Wer ein Instru­ment spielt weiß, wie viel Zeit und Engage­ment nötig sind, bis es so klingt, wie gewünscht. Und Gitarre ist dazu auch noch ein asymme­tri­sches Instru­ment. Das bringt es mit sich, dass Gitar­ris­ten in einer ziemlich unnatür­li­chen Haltung sitzen oder stehen. Und das täglich bis zu mehreren Stunden am Stück. Nicht nur unsere Wirbel­säu­le ist davon betroffen, auch Arm- und Handmus­ku­la­tur, Sehnen und Bänder sind dadurch belastet. Wer würde sich schon freiwil­lig in einer solchen Haltung hinsetzen, mehrere Stunden am Tag – wäre da nicht dieses wunder­schön klingende Instru­ment mit seinen faszi­nie­rend vielfäl­ti­gen Möglichkeiten?

Gitar­ris­ten­pro­ble­me

Dass die Haltung des Instru­ments bei vielen Gitar­ris­ten auf Dauer zu Problemen führen kann, scheint fast program­miert. Viele Gitar­ris­ten leiden an Schulter- und Nacken­schmer­zen, Schmerzen im Lenden­wir­bel­be­reich und Sehnen­schei­den­ent­zün­dun­gen. Spannun­gen im Schulter- und Nacken­be­reich können zu Kopfschmer­zen führen. Die Konzen­tra­ti­on leidet. Auch vor Auftrit­ten, wenn sich das Stress­le­vel im Kopf erhöht, neigen viele Gitar­ris­ten zu erhöhten Muskel­an­span­nun­gen. Nichts in unserem Körper passiert unabhän­gig vonein­an­der: Wenn die Anspan­nung steigt oder das Übepensum spontan erhöht wird, kann das die Probleme verstär­ken. Aber wenn wir achtsam sind, können wir möglichen Problemen wirksam vorbeugen. Ich gebe dir hier einige Tipps, wie du dich vor Schmerzen schützen kannst bezie­hungs­wei­se was du tun kannst, wenn du schon das eine oder andere Problem hast. Ich spreche hier nur allge­mei­ne Probleme und Lösungs­vor­schlä­ge an, denn wenn man ein spezi­fi­sches Problem wie eine Sehnen­schei­den­ent­zün­dung oder chroni­sche Schmerzen hat, sollte man zum Arzt gehen und eine Diagnose mit Thera­pie­mög­lich­kei­ten erfragen. Gesundes Musizie­ren fängt beim Instru­ment an. Wenn das Instru­ment für dich zu anstren­gend zu spielen ist, es vielleicht zu groß ist, kann das zu Problemen führen. Der Klang und die Spiel­freu­de leiden darunter. Was nützt das tollste Instru­ment, wenn du es nicht so gut und vor allem so locker spielen kannst, wie du eigent­lich könntest? Ich bin zum Beispiel eher zierlich gebaut – also habe ich Instru­men­te, die meiner Körper­grö­ße angemes­sen sind. Ich spiele fast ausschließ­lich Gitarren mit normal­gro­ßem Korpus und einer 63er‑, statt mit einer 65er-Mensur. Inzwi­schen gibt es so gute Instru­men­te, dass die Klang­qua­li­tät nicht leidet. Schlimms­ten­falls hat man einen Lautstär­ken­ver­lust. Den kann ich aller­dings verschmer­zen, denn ich werde durch mein flüssi­ge­res, schöneres Spiel belohnt. Und darauf kommt es mir an.

Haltung

Auch die Spiel­hal­tung spielt eine wichtige Rolle. Wobei es für Gitar­ris­ten grund­sätz­lich durch die Asymme­trie des Instru­ments nicht ganz einfach ist, gesund zu sitzen. Umso wichtiger ist es, achtsam zu sein und Körper­be­wusst­sein zu entwi­ckeln. Es gibt viele Diskus­sio­nen um die ideale Spiel­hal­tung bei Gitar­ris­ten. Ich bin der Ansicht, dass die Spiel­hal­tung eine zentrale Rolle beim Musizie­ren spielt. Jeder sollte verschie­de­ne Spiel­hal­tun­gen für sich testen. Gerade wenn gesund­heit­li­che Probleme auftau­chen, kann es sein, dass man mit einer Änderung und Optimie­rung der Haltung Lösungen findet. Darum ist mein Rat: Bleibe neugierig und offen und experi­men­tie­re mit deiner Spiel­hal­tung. Spiele ich Klassik, bevorzuge ich die Haltung eines klassi­schen Gitar­ris­ten, aufrecht und mit Gitar­ren­stüt­ze – damit lassen sich klassi­sche Klang­vor­stel­lun­gen tatsäch­lich besser umsetzen. Spiele ich auf meiner Western­gi­tar­re Finger­style mit perkus­si­ven Effekten, sitze ich zwar immer noch wie ein Klassiker, aber meine Hände sind in deutlich anderen Stellun­gen, sonst würden mir manche Effekte und Dämpf­tech­ni­ken teilweise nicht gelingen. Ganz gleich, ob du sitzt oder stehst, ob du einen Gurt benutzt, ein Fußbänk­chen oder eine Gitar­ren­stüt­ze – es ist wichtig, immer wieder auf eine aufrechte Haltung zu achten. Viele Musiker spielen mit rundem Rücken und beugen sich über ihre Gitarre. Viele verdrehen zusätz­lich ihren Oberkör­per in Richtung der Greifhand. Beides ist sehr belastend für die Wirbel­säu­le und für die Halte­mus­ku­la­tur im Rücken und im Schulter- und Nacken­be­reich. Es ist wichtig, aufrecht zu sitzen oder stehen und die Wirbel­säu­le nicht zu verdrehen. Tipp: Beobachte dich immer mal wieder beim Spielen vor einem Spiegel. Gerade wenn man eine technisch heraus­for­dern­de Stelle übt, neigt man dazu, so konzen­triert zu sein, dass man in einer Spiel­hal­tung verharrt. Es braucht etwas Übung in Achtsam­keit, um immer wieder zu prüfen, wie man sitzt, wie sich die Wirbel­säu­le anfühlt, wie die Anspan­nung in den Armen und Händen ist. Nimm dir also Zeit, dich während des Übens immer wieder zwischen­durch kurz zu entspan­nen, ein wenig den Rücken zu bewegen und gegebe­nen­falls deine Haltung zu korrigieren.

Stress

Auch das passiert häufig: Eine Prüfung oder ein Auftritt steht an, man erhöht kurz vorher von heute auf morgen das Übevo­lu­men. Besser ist es, die Übezeiten über einen längeren Zeitraum von einer bis zwei Wochen schritt­wei­se zu erhöhen. Wenn sich dann vor einem Auftritt auch noch das Stress­le­vel im Kopf erhöht, steigt oft die Erwar­tungs­hal­tung an die eigene Leistung. Das hat eine enorme Wirkung auf unsere gesamte Muskel­span­nung. Diese kann sich durch Unzufrie­den­heit, Kopfschmer­zen, unruhigen Schlaf und durch Schulter- und Nacken­be­schwer­den äußern. Wichtig ist, recht­zei­tig mit der Vorbe­rei­tung des Auftritts zu beginnen. Wähle die Stücke so aus, dass sie zu deinem Spiel­le­vel passen. Versuche nicht, perfekt zu sein, sondern einfach so gut, wie es in diesem Moment eben geht.

Tipps

Hier sind einige Tipps aufge­lis­tet, damit du lange mit Spaß und intensiv mit all deinen Sinnen musizie­ren kannst. In der Haupt­sa­che geht es um Achtsam­keit und einen guten Umgang mit dir selbst und deinem Körper:

  • Die richtige Gitarre: sollte dem Spieler und seinen Gegeben­hei­ten angepasst sein.
  • Übungen gegen Verspan­nun­gen: Dehnen der Wirbel­säu­le, Schultern ein paarmal nach vorne und nach hinten rollen, Kopf einige Male sanft nach links und rechts bewegen; Schultern einige Male langsam zu den Ohren ziehen, etwas halten und sanft nach unten abschmel­zen lassen.
  • Bewegung und Sport: Sehr gut sind Yoga, Qi-Gong, Tai Chi, Alexan­der­tech­nik und Feldenkrais.
  • Achtsam­keit: Egal ob sitzend oder stehend – nimm dir Zeit und fühle immer wieder, wie es deinen Händen, deinen Armen, deinem Schulter- und Nacken­be­reich geht und ob deine Wirbel­säu­le aufrecht oder verdreht ist. Achte auf Anspan­nun­gen und entspanne dort gegebenenfalls.
  • Atemübun­gen und kleine, effektive Pausen während deiner Übezeit: Atme ein und aus und beobachte dabei deinen Atem. Wenn er sich ändern möchte, dann lasse es zu. Wenn er so bleiben möchte, dann lasse ihn, wie er ist. Beobachte, wie sich dein Atem beim Einatmen anfühlt, wie er deine Lunge füllt. Beobachte, wie er sich beim Ausatmen anfühlt, wenn er deinen Körper verlässt. Entspan­nen­der wird diese Übung, wenn du die Augen schließt.
  • Bodyscan (sehr entspan­nend): Atme wie oben beschrie­ben. Beginne bei den Füßen, stehend oder sitzend beide Füße stabil auf den Boden stellen. Fühle den Boden unter deinen Füßen. Beim Sitzen: Fühle dein Gewicht gleich­mä­ßig auf beiden Sitzbein­hö­ckern. Richte deine Wirbel­säu­le auf. Achte darauf, dass deine Wirbel­säu­le nicht verdreht ist. Entspanne deine Schulter- und Nacken­mus­ku­la­tur. Entspanne deine Gesichts­mus­ku­la­tur. Nun beobachte wieder deinen Atem so lange, wie es sich für dich stimmig anfühlt.
  • Stress im Kopf? Hohe Erwar­tungs­hal­tung? Du wirst immer in deiner eigenen Haut stecken. Also sei dir selbst dein aller­bes­ter Freund! Achte darauf, dass es dir gutgeht. Und: Nobody has to be perfect.

Von Susan Groffmann Susan Groffmann

(Bild: Sven Offermanns)

Susan Groffmann ist engagier­te Gitar­ren­leh­re­rin, Gitar­ris­tin, Musik­phy­sio­lo­gin und Coach. Ihre Schüler nehmen regel­mä­ßig mit Erfolg an Wettbe­wer­ben teil. Susan gibt Workshops für gesundes Musizie­ren, effek­ti­ves Üben und die gelungene Perfor­mance ohne Lampenfieber.

Info: www.susangroffmann-coaching.de

Dieser Artikel erschien erstmals in Ausgabe 3–2020 der Fachzeit­schrift AKUSTIK GITARRE (www.akustik-gitarre.com).

  • Mentale Stärke für Musiker Kosten­frei­es Live-Webinar Sonntag, 23.08. von 18.00–19.00 Weitere Informationen
Beitrag teilen:
WhatsApp
Facebook
Twitter
Email